Zweimal wurde die alte Bundesrepublik von schweren Grippewellen heimgesucht. Damals starben knapp 100.000 Menschen – und die Politik nahm das hin.
Der Heilige Abend 1969 hat sich in seine Erinnerung gebrannt. Adolf Albrecht, damals 38, war Chefarzt des Sankt Gertrauden-Krankenhauses in West-Berlin. Er hatte Rufbereitschaft und wollte
den Tag mit seiner Familie verbringen. Aber dann häuften sich alarmierende Meldungen aus der Notaufnahme, immer mehr Erkrankte, die Blut husteten und hohes Fieber hatten. Der Radiologe eilte
sofort in die Klinik. Jede zweite Röntgenaufnahme, die er an diesem Tag machte, zeigte eine Lungenentzündung. Das war "sehr heftig", erinnert sich Albrecht. Noch in der Nacht starben die
ersten Patienten. Bald füllten Leichen die Pathologie.
Wie heute kam auch damals das Virus aus Asien. Bis zu 50.000 Westdeutsche sowie einige Tausend Ostdeutsche fielen der sogenannten Hongkong-Grippe zwischen 1968 und 1970 zum Opfer. Benannt
wurde sie nach der britischen Kronkolonie, in der die Krankheit in größerem Umfang aufgetreten war. Sie war eine von insgesamt zwei Pandemien, die Nachkriegsdeutschland heimsuchten. Die
andere – die sogenannte Asiatische Grippe – hatte rund zehn Jahre zuvor 30.000 Menschen in Bundesrepublik und DDR dahingerafft.
Die Parallelen zur Gegenwart verblüffen, Teile des öffentlichen Lebens kamen zum Stillstand. In einigen Bundesländern wurden Schulen geschlossen, Klassenreisen verboten, Ferien verschoben.
Manche Wirtschaftsbereiche – wie der Bergbau – fuhren die Produktion herunter.
Damals stießen Krankenhäuser auch an ihre Grenzen. Der Andrang der Patienten wuchs, zugleich
meldeten sich malade Schwestern und Ärzte ab. Kranke lagen auf Fluren, auf fahrbaren Tragen in Badezimmern, auf schmalen Notbetten. Es seien "nie da gewesene Verhältnisse", klagte ein
Klinikpathologe 1970. In Hamburg forderten Hospitäler ehemalige Schwestern und Pfleger auf auszuhelfen. Soldaten und Angehörige der freiwilligen Feuerwehr packten mit an.
Zeitweise spielten sich gruselige Szenen ab. In West-Berlin herrschte im Januar 1970 Bestattungsnotstand, auch weil der Winter harsch ausfiel und der Boden gefroren war. Särge mit Leichen
mussten in Gewächshäusern des Gartenbauamts Wedding oder in der Wilmersdorfer Bezirksgärtnerei gelagert werden. In Augsburg erkrankten so viele Totengräber, dass schließlich Mitarbeiter der
Müllabfuhr einsprangen.
Trotz der vielen Opfer sind beide Epidemien heute weitgehend vergessen. Dabei haben
Wissenschafts- und Medizinhistoriker wie David Rengeling, Malte Thießen oder Wilfried Witte die Aufarbeitung des Geschehens in den vergangenen Jahren vorangetrieben.
Ihre Forschungsergebnisse werfen einen Schatten auf die sonst so gefeierte Erfolgsgeschichte der jungen Bundesrepublik. Politiker und Behörden in Bund und Ländern reagierten damals mit
erstaunlicher Empathielosigkeit auf die Seuche. Thießen und Rengeling sprechen mit Blick auf die Asiatische Grippe sogar von "Fahrlässigkeit".
Frühe Warnungen der Weltgesundheitsorganisation ignorierte Bonn oder wies sie als "Dramatisierung" zurück. Besorgte Bürger wurden von Ministerien abgekanzelt. Der junge SPD-Abgeordnete
Hans-Jürgen Wischnewski, später berühmt geworden als Held von Mogadischu, bezeichnete die Grippewelle 1958 im Bundestag als "Naturereignis".
DER SPIEGEL 17/2020cgs
Der Aufbruch
Jetzt oder nie: Der Corona-Schock birgt die Chance auf eine bessere Welt
Es war die Zeit des Wirtschaftswunders, die öffentliche Meinung empörte sich nicht über Kranke und Tote, sondern fürchtete um die Früchte des Wiederaufbaus. Im Sommer 1957 hatte die Regierung
von Kanzler Konrad Adenauer (CDU) die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter eingeführt. Reformkritiker wie der FDP-Politiker Wolfgang Mischnick behaupteten, die Leute würden das neue
Gesetz missbrauchen und blaumachen.
Kaltes Deutschland.
Beide Pandemien kamen in Wellen nach Deutschland; in manchen Regionen traf es jeden dritten Schüler und bis zu 40 Prozent der Belegschaften. In Hamburg hustete und fieberte mehr als die
Hälfte der Einwohnerschaft.
Aus Sorge vor Ansteckung wurde ein amerikanischer Truppentransporter in der Wesermündung unter Quarantäne gestellt (allerdings nur für 24 Stunden). Und schon Adenauer wich ins Homeoffice aus,
in sein prächtiges Anwesen in Rhöndorf bei Bonn. Der 81-jährige Regierungschef hatte sich infiziert und musste schließlich einen offiziellen Besuch in London absagen.
Doch anders als heute hechelten die Behörden den Ereignissen hinterher. Die Schulen schlossen meist nicht, um Lehrer und Schüler vorab zu schützen, sondern erst nachdem diese bereits in
großer Zahl krank zu Hause geblieben waren.
Es fehlte an Grippekenntnis, wie Historiker Witte herausgefunden hat. Ärzte empfahlen zum Schutz Chinin, obwohl bekannt war, dass es selten half.
Nun wirkte sich aus, dass die deutsche Wissenschaft mit der Spanischen Grippe 1918/19 den
Anschluss verloren hatte. Deutschlands Forscher führten das damalige Massensterben, nach heutigen Schätzungen einige Hunderttausend Tote im Reich, fälschlicherweise auf ein Bakterium zurück.
Und obwohl Kollegen in London 1933 erstmals ein Grippevirus isoliert hatten, hielt sich in deutschen Praxen, Kliniken, Behörden bis in die Nachkriegszeit der "bakteriologische Denkstil"
(Historiker Rengeling) – mit gravierenden Folgen. Man verstand die Zusammenhänge oft nicht, unterschätzte die Gefahren einer Grippepandemie und die Chancen einer Impfung.
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Titel: Vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention:
Grippe-Pandemien im Spiegel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit (Gesundheitssoziologie 1)
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Impfempfehlungen der WHO stießen in der Bundesrepublik – anders als in den USA, Großbritannien oder Australien – auf erheblichen Widerstand. Das Bundesgesundheitsamt verzichtete auf
Impfempfehlungen. Gesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) redete 1969 die anlaufende Influenzawelle aus Hongkong klein.
Hinzu kamen Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Bund und Ländern, die auf eine Meldepflicht für Grippe weitgehend verzichtet hatten. Das Bonner Innenministerium – zunächst zuständig für
Gesundheitspolitik – und das Bundesgesundheitsamt versuchten, flächendeckend Informationen über Todesfälle, Krankheitsverläufe, Gegenmaßnahmen zusammenzutragen, es war vergebens. Während der
Hongkong-Grippe konnten sich die Beteiligten in Bund und Ländern nicht einmal einigen, was als Grippe galt.
Und wie lief es im Osten Deutschlands? Genaue Angaben zur Zahl der Verstorbenen fehlen, aber
Experten gehen davon aus, dass beide Pandemien auch den selbst ernannten Arbeiter-und-Bauern-Staat heimsuchten. Die DDR-Spitze um SED-Chef Walter Ulbricht setzte das Thema 1969/70 auf die
Tagesordnung. Sie startete Infokampagnen ("Huste, puste, niese nicht / andern Leuten ins Gesicht"), sammelte Daten an zentraler Stelle, forderte die Menschen zum Impfen auf. Allerdings
mangelte es an Impfstoffen.
Zumindest in der Theorie waren die Genossen der Zeit voraus. Die DDR-Epidemievorschriften setzten auf "social distancing" und Mundschutzpflicht für alle, die im Lebensmittelhandel arbeiteten.
Eine Expertenkommission entwarf 1970 infolge der Hongkong-Grippe ein "Führungsdokument", das mit klar definierten Pandemiestufen und einem umfassenden Maßnahmenkatalog manches vorwegnahm, was
sich im ersten "Nationalen Pandemieplan" der Bundesrepublik von 2005 fand.
Wie die Ostdeutschen das Vorgehen der SED-Obrigkeit beurteilten, ist nicht erforscht. Von den Westdeutschen ist hingegen bekannt, dass ihre Kritik an den Zuständen in ihrer Republik milde
ausfiel.
Rezepte für angebliche oder tatsächliche Hausmittel machten die Runde, etwa eine Mischung aus Fischeiern, Zwiebeln, Zitronensaft und heißem Rum. Einige erlagen der Werbung der Pharmaindustrie
für Merfen-Tabletten, die in der damaligen Zusammensetzung später verboten wurden, weil sie Quecksilber enthielten.
Für seine Generation sei die Hongkong-Grippe "nicht so aufregend" gewesen, sagt der ehemalige Klinikchef Albrecht und verweist auf die schrecklichen Erfahrungen von Krieg und Nachkriegszeit
mit Gefallenen, Vermissten, Ermordeten.
Auch sonst war der Tod damals präsenter als heute. Die Deutschen starben deutlich früher, bis 1965 erreichten Männer im Durchschnitt nicht einmal das gesetzliche Rentenalter von 65 Jahren.
Tausende erkrankten seinerzeit noch an Tuberkulose oder Kinderlähmung. Da fiel die Influenza, die stetig wiederkehrte, aus Sicht vieler nicht sonderlich ins Gewicht, auch wenn sie als
Epidemie auftrat.
Die Leute waren es gewohnt, sagt Historiker Thießen, "mit den Toten der Grippe zu leben".
David Rengeling: "Vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention". Grippe-Pandemien im Spiegel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit.Nomos; 525 Seiten; 99 Euro.